Radstrategie Darmstadt

Beschluss SV-2019/0157 vom 18. Juni 2019

Präambel: Die Wissenschaftsstadt Darmstadt bekennt sich zur Notwendigkeit einer Verkehrswende und entwickelt mit dem Mobilitätskonzept 2030+ ein ganzheitliches Konzept für eine nachhaltige Verkehrspolitik. Als erste Teilstrategie dieses Gesamtkonzepts ist der hier vorliegende Grundsatzbeschluss zur Förderung des Radverkehrs zu verstehen. Hier werden Qualitätsansprüche und Handlungsfelder der städtischen Radverkehrspolitik definiert. Ziel ist eine fahrradfreundliche Stadt mit einer einladenden und sicheren Infrastruktur für alle Menschen, die Radfahren wollen.

A Handlungsfeld strategische Ziele:

A 1. Beitrag zur Stadtentwicklung: Die Radstrategie ist ein Beitrag zur weiteren Entwicklung Darmstadts als lebenswerte und attraktive Stadt. Die Verkehrswende mit einer Verlagerung von Autoverkehr auf mehr Radverkehr führt zu einer Steigerung der Lebensqualität, trägt zur Aufenthaltsqualität und zur sozialen Belebung des öffentlichen Raums bei und reduziert Lärm, Abgase und Feinstaub. Radfahren ist bezahlbar und gesund.

A 2. Steigerung Modal Split: Der Modal-Split-Anteil des Radverkehrs (Gesamtanteil aller Wege der Darmstädter Wohnbevölkerung) lag zuletzt bei 17% (SrV-Erhebung TU Dresden 2013). Dieser Radverkehrsanteil soll bis 2030 auf 30% gesteigert werden. Die Steigerung soll durch die Verlagerung von Autofahrten auf das Fahrrad erreicht werden.

A 3. Zielnetz Radverkehr: Der aus dem Verkehrsentwicklungsplan 2006 (VEP) stammende Radverkehrs-Netzplan wird überarbeitet und fortgeschrieben. Die Unterteilung in ein Hauptradnetz für die durchgängigen Achsen/Erschließung zentraler Ziele und in ein Nebennetz für die ergänzende Erschließung im Stadtteil/Quartier wird beibehalten. Im Hauptradnetz müssen für alle Zielgruppen attraktive und sichere Angebote geschaffen werden, unabhängig davon, ob es sich um Hauptverkehrsstraßen oder um Straßen/Wege im übrigen Netz handelt. Künftige Radplanungen sind aus dem Blickwinkel von schwächeren Verkehrsteilnehmern (wie Kinder, Senioren, unsicher Radfahrende, mobilitätseingeschränkte Menschen) zu entwickeln.

A 4. Flächengerechtigkeit: Ein attraktives Radnetz braucht mehr Flächen. Dies wird durch die Neuordnung des öffentlichen Raums ermöglicht. Die für den Radverkehr benötigten Flächen werden zum größten Teil von Flächen des bislang räumlich vorherrschenden Autoverkehrs bereit zu stellen sein. Die Förderung des Radverkehrs soll keine Nachteile für den öffentlichen Nahverkehr und den Fußverkehr haben.

A 5. Verkehrssicherheit: Es gilt die Grundregel der Straßenverkehrsordnung, dass die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer/innen der Flüssigkeit des Verkehrs vorgeht. Es wird empfohlen, für umfangreiche Eingriffe in den Straßenraum ein anlassbezogenes Sicherheitsaudit im Bestand nach den Richtlinien für das Sicherheitsaudit an Straßen (RSAS) durchzuführen. Bei schweren Radunfällen wird unverzüglich untersucht, ob weitere Sicherungsmaßnahmen erforderlich sind.

B Handlungsfeld Infrastruktur:

B1. Planung nach Stand der Technik1: Die Richtlinie „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA)“ in der jeweils gültigen Fassung wird als verbindliches Regelwerk für alle Planungen und baulichen Maßnahmen eingeführt. Es sind die in den Regelwerken genannten Regelbreiten zzgl. der jeweiligen Sicherheitstrennstreifen als Mindestmaße anzuwenden. Bei allen Planungen im eigenen Stadtgebiet setzt die Wissenschaftsstadt Darmstadt mindestens die vom Land Hessen veröffentlichten Standards und Musterlösungen zu den verschiedenen Führungsformen des Radverkehrs um. Falls Planungen nach ERA im Konflikt zu EFA stehen, müssen Belastungen des Fußverkehrs vermieden werden.

B2. Qualitätsoffensive Radverkehrsanlagen an Hauptverkehrsstraßen: Alle Hauptverkehrsstraßen werden nach Möglichkeit ERA-Konform gemäß B1 mit Radverkehrsanlagen ausgestattet. Darüber hinaus setzt die Wissenschaftsstadt Darmstadt auf die Entwicklung eines Qualitäts-Radnetzes. Im Qualitätsnetz sollen Radfahrende entlang von Hauptverkehrsstraßen auf eigenen Radverkehrsanlagen baulich getrennt vom Kfz-Verkehr und vom Fußverkehr geführt werden. Die Radverkehrsanlagen sollen so ausgestaltet sein, dass komfortabel überholt werden kann (Regelbreite bei Einrichtungsverkehr 2,30 Meter laut ERA 2010) und missbräuchliches Befahren und Halten durch Kfz-Verkehr verhindert wird.

B3. Qualitätsoffensive Radschnell-/Raddirektverbindungen: In der Potentialanalyse des Landes Hessen für Radschnell- und Raddirektverbindung kommt der Wissenschaftsstadt Darmstadt eine besondere Rolle als Oberzentrum und Knotenpunkt mehrerer Routenstränge zu. Die Wissenschaftsstadt Darmstadt arbeitet aktiv an allen externen Planungen mit und setzt auf eine attraktive Führung innerhalb des eigenen Stadtgebiets. Dabei sollen die bestehenden Planungen Richtung Nord (Frankfurt) und Süd (Rhein- Neckar) möglichst als eine durchgehende Radschnell-/Raddirektverbindung durch das Stadtgebiet verbunden werden.

B4. Sichere Kreuzungen: An Kreuzungen besteht für Radfahrende eine erhöhte Unfallgefahr. Die Führung des Radverkehrs an Kreuzungen wird je nach Knotenpunktart und -größe zunächst mit entsprechenden Maßnahmen wie Aufstellflächen und vorgezogenen Haltlinien verbessert. Damit soll die Verkehrssicherheit für Radfahrende entscheidend verbessert werden. Wichtigstes Kriterium ist die Sichtbarkeit des Radverkehrs im Knotenpunkt. Knoten gleichen Typs sollen mit baugleichen Lösungen ausgestattet sein. An mehrstreifigen Hauptverkehrsstraßen soll die Machbarkeit von „geschützten Kreuzungen“ nach holländischem Vorbild vorrangig geprüft werden. Dabei wird der Radverkehr im Seitenraum mittels Schutzinseln in den optimalen Sichtbereich des Kfz-Verkehrs geführt. Bei allen Neu-/Umplanungen von Kreuzungen wird auf freie Kfz- Rechtsabbiegerspuren verzichtet, wenn das die Verkehrssicherheit erhöht. Bei Kreuzungen von Hauptverkehrsstraßen mit untergeordneten Nebenstraßen und Grundstückszufahrten sollen baulich getrennte Radwege (Geh- / Radwege) so ausgeführt werden, dass Rad- und Fußverkehr niveaugleich die Hauptverkehrsrichtung nutzen kann.

B5. Qualitätsoffensive Nebennetz / Fahrradstraßen: Die Wissenschaftsstadt Darmstadt überarbeitet das bestehende Konzept „Fahrradstraßen“ und schreibt es fort. Fahrradstraßen sollen ein positiver Beitrag für eine einladende Infrastruktur sein. Mit einer durchgehenden Fahrgassenbreite von 4 Metern sollen ein gesichertes Vorbeifahren am parkenden Kfz-Verkehr und ein komfortables Nebeneinanderfahren möglich sein. Auch im übrigen Nebennetz soll die Verbesserung des Radverkehrs gemäß den Regelwerken angewendet werden. Dies betrifft Punkte wie Querungshilfen, modale Filter, Sichtbeziehungen an den Knotenpunkten oder ausreichende Sicherheitsabstände zum parkenden Kfz-Verkehr (Autotürbreite).

B6. Qualitätsoffensive Radparken: Die Anzahl sicherer und zentraler öffentlicher Abstellanlagen im Stadtgebiet wird weiter erhöht. Eine besondere Bedeutung liegt im Ausbau an Knotenpunkten mit dem öffentlichen Verkehr (Bike & Ride). Für neue Wohngebiete und Bauvorhaben wird eine kommunale Fahrrad- Stellplatzsatzung erarbeitet. Für das Parken von Lastenrädern werden Angebote entwickelt. Für besonders bedeutende Ziele (City) und Quartiere 7 werden Bedarfsanalysen für Radparken erstellt. Bei Großveranstaltungen und Events, bei denen Radständer entfernt werden müssen, wird attraktives Radparken durch temporäre Lösungen angeboten und beworben.

B7. Intuitive Führung: Radwege im Seitenraum sollen möglichst mit durchgehendem Rotasphalt ausgestattet werden. Bei Fahrbahnführungen werden Roteinfärbungen auf allen potentiellen Begegnungsflächen von Kfz/Rad vorgenommen, auch an LSA geregelten Knoten können Furten künftig rot eingefärbt werden.

B8. Ergänzende Maßnahmen: Die in der interaktiven Karte des Radentscheids eingetragenen Vorschläge zur Verbesserung der Infrastruktur durch Kleinmaßnahmen (Entfernen von Hindernissen wie Poller, Bordsteinabsenkungen, Trixi-Spiegel, usw.) werden, soweit nicht fachliche Gründe gegen einzelne Vorschläge sprechen, im Rahmen der Radoffensive umgesetzt.

C Handlungsfeld Information und Kommunikation:

C1. Zählstellen / Daten: Um künftig aktuelle valide Daten zum Radverkehr zu erhalten, setzt die Wissenschaftsstadt Darmstadt auf ein Netz aus Radzählstellen. Die Werte werden für Nutzer/innen und Interessierte z. B. über die Website zugänglich gemacht. Auch die Machbarkeit der Nutzung von digitalen Daten von Radfahrenden soll ergebnisoffen geprüft werden.

C2.Mängelmelder: Der städtische Mängelmelder wird um die Kategorie „Radverkehr: defekte Beschilderung/Wegweisung“; „Radverkehr: Abstellanlage defekt/verschoben“; „Radverkehr: fehlende oder defekte Poller“ und „Radverkehr: Oberflächenschäden“ ergänzt. Die Aufnahme weiterer Kategorien wird geprüft.

C3. Öffentlichkeitsarbeit: Die Maßnahmen der Radstrategie werden mit proaktiver Öffentlichkeitarbeit begleitet. Dazu zählen z. B. die Entwicklung einer eigenen Dachmarke (Wort/Bildmarke), die Eröffnung von Infrastruktur- Maßnahmen, die Erstellung von Informationsmaterialien und eine aktuelle Online-Präsenz. Neben der Öffentlichkeitsarbeit zu Infrastrukturprojekten werden Maßnahmen und Aktionen zur gegenseitigen Rücksichtnahme (z. B. Miteinanderzonen Fuß/Rad in Grünanlagen und Fußgängerzonen) und zur Erhöhung der Verkehrssicherheit ins Handlungsprogramm zur Öffentlichkeitsarbeit aufgenommen.

C4. Wissensmanagement: für die öffentliche Wahrnehmung, das Freisetzen von Impulsen und Innovationen und die Fortbildung von Politik, Verwaltung und Akteuren finden in Darmstadt regelmäßig Workshops, Seminare und Konferenzen zu aktuellen Themen der Radverkehrsförderung statt. Dabei sucht die Wissenschaftsstadt Darmstadt aktiv Kooperationspartner wie z. B. das Land Hessen (AGNH), die Fahrradakademie, die Radverbände usw.

C5. Berichtswesen / Erfolgskontrolle: Die Wissenschaftsstadt Darmstadt informiert jedes Jahr in einem öffentlichen Bericht über den Status der Umsetzungen.

D Handlungsfeld Arbeitsstrukturen:

D1: Die Wissenschaftsstadt Darmstadt arbeitet aktiv in der landesweiten Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität (AGNH) mit. Eine enge und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Land Hessen ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Gelingen der strategischen Zielsetzungen auf kommunaler als auch auf Landesebene.

D2: Wichtige Radverkehrs-Maßnahmen und -Planungen werden künftig in einem „Fachbeirat Radverkehr“ vorbesprochen und evaluiert. Der Fachbeirat soll neben der Verwaltung aus Vertreter/innen der Verkehrsverbände / Initiativen und der Hochschule / Wissenschaft auch aus politischen Vertreter/innen bestehen. Als Begleitinstrument der Radstrategie soll sich das Gremium eine Geschäftsordnung geben. Die für Unfallberichterstattung zuständigen Stellen sollen als Teil des Fachbeirats ständig vertreten sein.

D3: Die Zusammenarbeit mit der h_da und der TU Darmstadt wird gestärkt. Die Expertise in Forschung und Lehre aus den verkehrsplanerisch relevanten Disziplinen wird für die verkehrsplanerische Praxis zum gegenseitigen Mehrwert genutzt.

E Handlungsfeld Anreizförderung:

E1: Lastenräder können aufgrund ihrer vielseitigen Nutzung Kfz-Fahrten und Kfz-Besitz ersetzen. Die hohe Nutzung in Darmstadt ist ein besonderes Alleinstellungsmerkmal. Für die weitere Förderung von Lastenrädern wird, wie in vielen anderen Städten bereits erfolgreich etabliert, eine kommunale Kauf- Anreizprämie geprüft. Lastenrad-Sharing-Angebote sollen ausgebaut werden.

E2: Für gemeinnützige Träger/Initiativen (Schulen, Hochschulen, Vereine, usw.) wird ein Förderprogramm/Förderpreis entwickelt. Mit dieser Unterstützung sollen eigene Maßnahmen zur Förderung des Radfahrens umgesetzt werden können.

1. Standards zum Fußverkehr sollen zeitnah in einer eigenen Fußverkehrsstrategie oder im Rahmen des Mobilitätskonzepts 2030+ bearbeitet. Ziel ist es dabei auch, dass bei der Planung neuer Quartiere und bei kompletten Straßenumbauten zur Förderung des Fußverkehrs die EFA als verbindliches Regelwerk eingeführt wird , siehe Beschluss SV 2020/0045 vom 4. März 2020